Europa! Europa?
Jean-Claude Juncker, bis November 2019 Präsident der Europäischen Kommission, schrieb im März 2017: „Die Europäische Union hat unser Leben zum Besseren gewendet. Wir müssen nun dafür sorgen, dass dies auch für diejenigen so bleibt, die nach uns kommen.“
Vielleicht sollte man also die, die nach uns kommen, einfach mal mit einbeziehen in die Gestaltung Europas. Und zwar in einem Maß, das ihnen gerecht wird: Die Kinder sind das Wichtigste, was wir haben!
Rückblick
Es war im November 1983, als schon einmal eine Idee diesem Kontinent ein fröhliches Gesicht gegeben hat. Damals stellte die griechische Kulturministerin Melina Mercouri ihren europäischen Amtskollegen erstmals die Idee der Kulturstadt Europas vor. „Kultur ist die Seele der Gesellschaft. Und nicht weniger wert als Technologie, Handel und Wirtschaft“, lautete die Botschaft der ehemaligen Schauspielerin. Zwei Jahre später wurde Athen die erste Kulturstadt Europas. Genau so wenig wie damals würde man heute sicher der Botschaft widersprechen können: „Kinder sind die Seele der Gesellschaft. Und weit mehr wert als Technologie, Handel und Wirtschaft.“
Europa war damals kein Freund. Kein guter Kumpel, mit dem man gerne ein paar Stunden verbrachte. Eher ein lästiger Begleiter. Ein irgendwie unnötiger Zeitgenosse. Den Zuspruch der Menschen zur Europäischen Gemeinschaft und zu dem Leitmotiv „In Vielfalt vereint“ beschrieb der damalige niederländische Kommissionspräsident Sicco Mansholt 1974 mit den Worten: „Der Bürger (…) wendet sich ab und lässt mit einer gewissen Abneigung die Institutionen in ihrem Saft schmoren.“
Europa, das war eine ziemlich zusammengeflickte Vereinigung, in der es zu Beginn um Kohle und Stahl (EGKS) und um Wirtschaft (EWG), um Agrarpolitik und Butterberge, den Abbau von Handelshemmnissen und Marktregulierung ging. Kultur? Fehlanzeige. Sicco Mansholt: „Es ist höchste Zeit, dass wir wählen zwischen dem Europa der Unternehmen, des Handels, des Marktes einerseits und dem sozialen Europa, dem menschlichen Europa andererseits.“
Ein Jahr später, also vor 45 Jahren, skizzierte der belgische Ministerpräsident Leo Tindemans erstmals ein „Europa der Bürger“ und mahnte die verbindenden Elemente der europäischen Völker an. „Den Europäern von morgen muss die europäische Realität als eine persönliche und konkrete Erfahrung vor Augen geführt werden, und es muss ihnen eine gründliche Kenntnis unserer Sprachen und unserer Kultur vermittelt werden, denn hieraus wächst das gemeinsame Erbe, das eben die europäische Union schützen muss.“
Endlich ging es um neue Identifikationsflächen. Weil, wie es der langjährige Kommissionspräsident Jacques Delors einmal rhetorisch auf den Punkt gebracht haben soll: „Wer verliebt sich schon in einen Binnenmarkt?“
Die Idee wuchs – und wurde zum großen Wurf. Was für ein Zugewinn! Europa konnte also auch lebendig und bunt, kreativ und vielfältig, aufregend und widersprüchlich sein. Zutiefst menschlich. Aus der Kulturstadt wurde die europäische Kulturhauptstadt. Aus dem zaghaften Anfang im Jahr 1985 wurde eine mehr als 35-jährige Erfolgsgeschichte. Aus einer punktuellen Sommerveranstaltung in einer Stadt wurden innerhalb von drei Phasen (die Initial-, Erprobungs- und Etablierungsphase, nach Jürgen Mittag: Die Idee der Kulturhauptstadt Europas) ganzjährige Kulturevents in jeweils zwei europäischen Städten, die zunehmend zahlreiche Touristen aus aller Herren Länder anlocken. Mittag: „Mit dem Ziel, sowohl die gemeinsamen als auch die unterschiedlichen Facetten europäischer Kultur stärker in das Blickfeld des öffentlichen Interesses zu rücken.“
Europa heute
Im Jahr 2021 steht Europa gerade wieder mächtig unter Druck. Die Rede ist von dem „Patient Europa“, von dem „Europa der Egoisten“. Die europäische Idee wird wieder infrage gestellt. Die Gegner sind mächtig und formieren sich. Wachsender Nationalismus, Rassismus, Autoritarismus, Abschottung, Rückzug in die Kleinstaaterei, Rechtsextremismus, regionaler Egoismus, Brexit. In Gefahr sind: Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Solidarität, Menschlichkeit, Mitbestimmung, Bürgerrechte, die offene Gesellschaft, der Liberalismus, das Engagement für die Schwachen.
Das ist Europa aus der Sicht der Bürger (Weißbuch zur Zukunft Europas):
Mehr als zwei Drittel der Europäer betrachten die EU als Hort der Stabilität in einer unruhigen Welt. Mehr als 80 Prozent befürworten die vier Grundfreiheiten der EU (freier Personen-, Waren-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehr). 70 Prozent der Bürgerinnen und Bürger des Euro-Währungsgebiets stehen hinter der gemeinsamen Währung. Und doch ist das Vertrauen der Bürger in die EU ebenso wie das Vertrauen in die nationalen Behörden gesunken. Rund ein Drittel der Europäer bringt der EU heute Vertrauen entgegen – vor zehn Jahren war es noch die Hälfte.
Das ist Europa aus der Sicht einiger Experten:
„Achterbahn“ lautet der Titel einer umfassenden Geschichte Europas von 1950 bis heute des britischen Historikers Ian Kershaw. Von einem kontinuierlichen Fortschreiten zu einer „immer engeren Union der Völker Europas“, wie es in der Präambel des Vertrags von Maastricht 1992 formuliert wurde, könne, so Kershaw, nicht die Rede sein. „Europa hat für die Freiheit gekämpft und gewonnen. Es hat einen Wohlstand erlangt, um den ihn der größte Teil der Welt beneidet. Doch sein Streben nach Einigkeit und einem klaren Identitätsgefühl geht weiter.“ Eine Gefahr, die er sieht: Die Verunsicherung Europas durch Terrorismus und Migration und die Wiederkehr eines bornierten und aggressiven Nationalismus könnten dazu führen, dass Europa in seinem gegenwärtigen fragilen Zustand womöglich noch einmal von den bösen Geistern der Vergangenheit heimgesucht werde.
Kirian Klaus Patel
„Projekt Europa“
Das Institutionengefüge der EU, „ist (…) anfälliger für eine Fundamentalkrise, falls mehrere gravierende Herausforderungen gleichzeitig auftreten sollten – wenn zum Beispiel Austrittsbewegungen, massive ökonomische Verwerfungen, die Aushöhlung des gemeinsamen Rechts und militärische Spannungen parallel zu bewältigen wären.“
Jan Zielonka
„Konterrevolution“
„Durchgängig ist die EU stärker auf Forderungen der Wirtschaftslobbyisten eingegangen als auf gewöhnliche Bürger. Sie hat sich als ‚Trojanisches Pferd‘ erwiesen, das die fortwährende Vorherrschaft der Märkte über die Demokratie gestärkt hat.“ Solange dies so sei, könne es kaum verwundern, dass immer mehr Menschen den Glauben an die EU und an die Demokratie verlieren und am Ende autoritären und nationalistischen Rattenfängern nachlaufen.
Hans-Peter Martin
„Game over“
Die EU, findet er, habe nie wirklich die Herzen der Europäer erobert. „Weil die soziale Dimension fehlt, nehmen Millionen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer die EU nur als einen rücksichtslosen Binnenmarkt wahr, den vor allem die großen Player dominieren, voran Großkonzerne, vor allem aus Deutschland.“ Für Martin steckt die Europäische Union heute in einer Existenzkrise, die sie nach seinem Urteil nicht überleben kann: „Die vielfältigen Krisenherde sind miteinander verzahnt und werden den Systemcrash auslösen.“
Was also tun, wenn die soziale Dimension fehlt, wenn die Herzen der Menschen erobert werden müssen und wenn nationalistische Rattenfänger ohne Gefolgschaft bleiben sollen?
So können Sie mitmachen
Wenn Sie ebenfalls der Meinung sind, dass Europa eine jährliche Kinderhauptstadt braucht, um Kindern und Jugendlichen eine Stimme zu geben und sie bei der Gestaltung der Zukunft endlich ernsthaft zu beteiligen, nehmen Sie mit uns Kontakt auf. Oder wenn Sie der Meinung sind, dass sich gerade Ihre Stadt als europäische Kinderhauptstadt eignet. Wir freuen uns über jede Anregung, jede Idee und jede Teilnahme vor allem auch von Kindern und Schulklassen.